Sanktionsrechtliche Haftung der Müttergesellschaft für ihre russischen Töchter

Recht Russland

Maria Kirilova, Rödl & Partner, Russland

Die Wertminderung des Rubels und die allgemeine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Russland infolge der Sanktionen im Zusammenhang mit der "speziellen Militäroperation" Russlands in der Ukraine kann zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Kennzahlen russischer Unternehmen führen, einschließlich Unternehmen mit ausländischer Beteiligung. In diesem Zusammenhang wird die Frage der Haftung der Muttergesellschaft für Schulden von Tochtergesellschaften noch wichtiger.

Das Prinzip der Trennung der juristischen Rechtsperson und des Vermögens einer Kapitalgesellschaft von Person und Vermögen ihrer Gesellschafter bildet das Fundament des Gesellschaftsrechts. Gemäß Punkt 2, Artikel 56 Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation (im Folgenden „ZGB RF“) haftet ein Gesellschafter einer juristischen Person oder der Eigentümer ihres Vermögens nicht für die Verbindlichkeiten des Unternehmens, und die juristische Person haftet nicht für die Verbindlichkeiten des Gesellschafters bzw. Vermögenseigentümers. Generell haftet ein Unternehmen für seine Verbindlichkeiten nur mit dem ihm gehörenden Vermögen. Jedoch legt das russische Recht einige Ausnahmen fest, in denen die Muttergesellschaft für die Handlungen der Tochtergesellschaft haften kann.

Status als Tochtergesellschaft

Zur Anwendung dieser Art der Haftung muss zuerst festgestellt werden, dass die betreffenden Gesellschaften im gegenseitigen Verhältnis als Mutter- und Tochtergesellschaft gelten, dass also eine Gesellschaft die Möglichkeit hat, die von der anderen Gesellschaft gefassten Beschlüsse zu bestimmen. Eine solche Möglichkeit könnte sich ergeben aus der Mehrheitsbeteiligung der Muttergesellschaft am Stammkapital der Tochtergesellschaft, einem zwischen den Gesellschaften geschlossenen Vertrag, oder aber anderen Umständen, zum Beispiel einer besonderen Beteiligungsstruktur der Unternehmensgruppe, dem innerhalb der Unternehmensgruppe geltenden Verfahren zum Abschluss von Rechtsgeschäften oder dem Niveau der Beteiligung an der Verwaltung der juristischen Person durch andere Gesellschafter (Art. 67.3 Pkt. 1ZGB RF). Wie das Plenum des Obersten Gerichts der Russischen Föderation erläutert hat, ist die faktische Möglichkeit der Muttergesellschaft, die von der Tochtergesellschaft gefassten Beschlüsse zu bestimmen, „nicht direkt mit der Höhe der Beteiligung einer Gesellschaft am Stammkapital der anderen Gesellschaft oder mit dem Vorliegen eines Vertrages zwischen diesen zusammenhängt“, somit „verhindert das Fehlen des formalen Merkmals der Kontrolle …. nicht die Feststellung der faktischen Möglichkeit der Muttergesellschaft, die von der Tochtergesellschaft zu fassenden Beschlüsse zu bestimmen“[1].

Gesamtschuldnerische Haftung der Muttergesellschaft für Rechtsgeschäfte der Tochtergesellschaft, die auf Anweisung oder mit Zustimmung der Muttergesellschaft geschlossen wurden

Die Muttergesellschaft haftet nicht für alle Rechtsgeschäfte der Tochtergesellschaft, sondern nur für jene, die in Erfüllung der Anweisungen oder mit Zustimmung der Muttergesellschaft geschlossen wurden. Das ZGB RF ordnet die Abstimmung der Muttergesellschaft zur Frage der Genehmigung von Rechtsgeschäften auf der Gesellschafterversammlung der Tochtergesellschaft sowie die Genehmigung eines Rechtsgeschäfts durch das Verwaltungsorgan der Muttergesellschaft nicht als Erteilung der Zustimmung ein, wenn die Notwendigkeit der Erteilung einer solchen Genehmigung in der Satzung einer der Gesellschaften vorgesehen ist. Die Haftung der Muttergesellschaft tritt unabhängig vom Vorliegen eines Verschuldens am Eintreten der Verluste bei der Tochtergesellschaft ein (Absatz 2, Punkt 2, Artikel 67.3 ZGB RF). Dabei ist es nicht erforderlich, dass bei der Tochtergesellschaft oder den Gläubigern ein Schaden entstanden ist, weder eine Pflichtverletzung noch Verschulden werden vorausgesetzt. Die Beweislast für die erteilte Weisung trägt der Gläubiger. Das Bestimmungsrecht, eine Weisung zu erteilen, ergibt sich aus der Stellung als beherrschendes Unternehmen.

Nach einer früheren Fassung im ZGB haftete die Muttergesellschaft gesamtschuldnerisch, falls sie das Recht hatte, der Tochtergesellschaft für diese verbindlichen Anweisungen zu erteilen. Unserer Auffassung nach ist der Verzicht des Gesetzgebers auf diese Formulierung vorteilhaft, da „nicht verbindliche“ Anweisungen der Muttergesellschaft an den Direktor der von dieser Muttergesellschaft kontrollierten Tochtergesellschaft schwer abzugrenzen sind. Dennoch ist die Bestimmung über verbindliche Anweisungen im Gesetz über Gesellschaften mit beschränkter Haftung (Absatz 2, Punkt 3, Artikel 6 GmbH-Gesetz) und im Gesetz über Aktiengesellschaft (Absatz 2, Punkt 3, Artikel 6 AG-Gesetz) erhalten geblieben. Letzteres legt außerdem fest, dass die Hauptgesellschaft nur dann haftbar gemacht werden kann, wenn ihr Recht zur Erteilung verbindlicher Anweisungen im Vertrag mit der Tochtergesellschaft oder deren Satzung vorgesehen ist. Das Vorhandensein dieser Anforderung führt oft zur Ablehnung der Haftbarmachung der Muttergesellschaft[2]. Jedoch ist auch nach Ausschluss der Anforderung der Verbindlichkeit der Anweisungen die Umsetzung dieser Norm aufgrund der Schwierigkeit der Beweisführung erschwert, dass ein bestimmtes Rechtsgeschäft in Erfüllung konkreter Anweisungen der Muttergesellschaft ausgeführt wurde. So lehnte zum Beispiel das Arbitragegericht des Wolga-Wjatskij-Bezirks die Haftbarmachung der Muttergesellschaft für einen von der Tochtergesellschaft geschlossenen Vertrag ab und führte aus, dass der Status der Muttergesellschaft als Verwaltungsgesellschaft der Tochtergesellschaft sowie die Beteiligung mit 99,99 % der Aktien an letzterer und die Wahrnehmung der Befugnisse des Einzelexekutivorgans der Tochtergesellschaft durch die Muttergesellschaft „die Eigenständigkeit der Gesellschaft bei der Lösung wirtschaftlicher Fragen und des Abschlusses von Rechtsgeschäften nicht automatisch einschränkt“[3]. Dieser Beschluss wurde vom Obersten Gericht der Russischen Föderation gestützt[4], das die Tatsache des Abschlusses des Vertrages auf Anweisung oder mit direkter Zustimmung der Muttergesellschaft für unbewiesen hielt.

Dennoch gibt es natürlich Fälle, in denen Muttergesellschaften wegen ihrer Möglichkeit zur Beeinflussung von Beschlüssen ihrer Tochtergesellschaften haftbar gemacht werden. So machte ein Gericht zwei Muttergesellschaften für die Schulden ihrer Tochtergesellschaft gesamtschuldnerisch haftbar - eine der Gesellschaften aufgrund ihrer Mehrheitsbeteiligung am Stammkapital der „Tochter“, die andere „aufgrund der Möglichkeit, die von der Tochtergesellschaft zu fassenden Beschlüsse über eine Person zu bestimmen, die mit dem Einzelexekutivorgan verwandt ist“[5] (die Generaldirektoren einer Muttergesellschaft und der Tochtergesellschaft waren Brüder). Auch die Tatsache, dass die Mitbeklagten eine Person wählten, die die Funktionen des Einzelexekutivorgans ausübte, sprach für die Ausübung der Kontrolle der Tochtergesellschaft durch die Muttergesellschaften und den Einfluss auf die von dieser gefassten Beschlüsse. Letztlich wurden auch folgende Umstände berücksichtigt: identische Adresse der Tochtergesellschaft und einer der Muttergesellschaften; gleiche Tätigkeitsarten; Fehlen einer gesonderten Vermögensbasis und ausreichender Vermögenswerte zur Ausübung der Geschäftstätigkeit bei der Tochtergesellschaft; Präsentieren als einheitliche Unternehmensgruppe (die elektronische Korrespondenz im Namen der Tochtergesellschaft erfolgte durch Mitarbeiter der Unternehmensgruppe, und die Korrespondenz wurde auf dem Briefbogen mit dem Logo der Unternehmensgruppe geführt). Es scheint, dass sich in diesem Fall die Gerichte auf die Begründung der Kontrolle über die Tochtergesellschaft konzentriert hatten, jedoch wurde in keinem der Gerichtsbeschlüsse in dieser Sache Beweise dafür vorgebracht, dass ein konkretes Rechtsgeschäft zwischen Kläger und Tochtergesellschaft in Umsetzung on Anweisungen oder mit Zustimmung der Muttergesellschaften abgeschlossen wurde. Es ist anzumerken, dass einer der Beklagten dieses Argument vorbrachte, als er versuchte, das erstinstanzliche Urteil anzufechten, jedoch wurde dieses Argument abgewiesen. Somit widerspricht dieses Urteil direkt der oben zitierten Position des Obersten Gerichts der Russischen Föderation, welches in einer vergleichbaren Situation die solidarische Haftung einer Muttergesellschaft abwies, da nicht bewiesen worden war, dass diese Anweisungen oder Zustimmungen bezüglich des Abschlusses eines Rechtsgeschäfts durch die Tochtergesellschaft erteilt hatte.

Subsidiäre Haftung der Muttergesellschaft bei Zahlungsunfähigkeit der Tochtergesellschaft

Gemäß einer Bestimmung des ZGB RF (Absatz 3, Punkt 2, Artikel 67.3 ZGB RF), die im Gesetz über Gesellschaften mit beschränkter Haftung dupliziert wird (Absatz 2, Punkt 3, Artikel 6 GmbH-Gesetz), haftet die Muttergesellschaft bei Feststellung eines Verschuldens subsidiär für die Insolvenz der Tochtergesellschaft. Auf ähnliche Weise bestimmt das Gesetz über Aktiengesellschaften die Haftung der Muttergesellschaft bei Insolvenz der Tochtergesellschaft und konkretisiert dabei auch die zu beweisende Form des Verschuldens (direkter Vorsatz). Danach ist das Verschulden der Muttergesellschaft dann anzunehmen, wenn sie offensichtlich wusste, dass ihre Anweisung einen Schaden verursacht (Absatz 3, Punkt 3, Artikel 6 AG-Gesetz). Ungeachtet der Schwierigkeit des Nachweises dieser Verschuldensform besteht auch Rechtsprechung zu dieser Norm[6]. Im GmbH-Gesetz gibt es keine entsprechende Regelung bezüglich der Schwere des Verschuldens. Daher geht die herrschende Meinung von den allgemeinen Regeln des ZGB RF aus (Art. 401), wonach als Verschulden sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit anzusehen ist.

Die Muttergesellschaft kann gemäß Insolvenzgesetz haftbar gemacht werden, da gemäß diesem Rechtsakt die Muttergesellschaft, die die Möglichkeit hat, von der Tochtergesellschaft zu fassende Beschlüsse zu bestimmen[7], in Bezug auf letztere die kontrollierende Person ist[8]. Die kontrollierende Person wird von der Haftung befreit, wenn sie beweist, dass sie „gemäß den üblichen Bedingungen des zivilrechtlichen Verkehrs, vernünftig und redlich im Interesse des Schuldners, seiner Gründer und Gesellschafter und ohne Verletzung der Vermögensrechte der Gläubiger gehandelt hat“ (Punkt 10, Artikel 61.11 Insolvenzgesetz). Außerdem erläutert das Plenum des Obersten Gerichts darauf, dass in diesem Falle der Begriff des üblichen unternehmerischen Risikos berücksichtigt und die „Regel über den Schutz der geschäftlichen Entscheidung“ angewendet werden muss: die den Schuldner kontrollierende Person wird nicht subsidiär haftbar gemacht, wenn ihre Handlungen (Unterlassungen), die zu negativen Folgen für den Schuldner geführt haben, nicht außerhalb des üblichen unternehmerischen Risikos lagen und nicht auf die Verletzung der Rechte und rechtmäßigen Interessen der zivilrechtlichen Gemeinschaft, die alle Gläubiger vereinigt, ausgerichtet war[9].

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[1] Punkt 13 Übersicht der Rechtsprechung des Obersten Gerichts der RF Nr. 1 (2019 (bestätigt durch das Präsidium des Obersten Gerichts der RF vom 24.4.2019)

[2] Siehe z.B. Erlass Nr. F09-153/11-S4 des Föderalen Arbitragegerichts des Uralbezirks vom 9.2.2011 in der Sache Nr. А76-45236/2009–15–855/12, Erlass Nr. F01-4278/2019 des Arbitragegerichts des Wolga-Wjatskij-Bezirks vom 18.9.2019 in der Sache Nr. А79-3499/2018.

[3] Erlass Nr. F01-3521/2016 des Arbitragegerichts des Wolga-Wjatskij-Bezirks vom 7.10.2016 in der Sache Nr. А17-3495/2015

[4] Entscheid Nr. 301-ES16-19496 des Obersten Gerichts der RF vom 26.1.2017 in der Sache Nr. А17-3495/2015

[5] Ebd.

[6] Beschluss des Arbitragegerichts des Gebiets Orel vom 2.4.2010 in der Sache Nr. A48-400/2010.

[7] Diese Definition ist in Punkt 1, Artikel 67.3 ZGB RF, Punkt 2, Artikel 6 OOO-Gesetz und Punkt 2, Artikel 6 AO-Gesetz verankert

[8] Die Kriterien für eine Einstufung als den Schuldner kontrollierende Person sind in Artikel 61.10 Insolvenzgesetz verankert

[9] Punkt 18 Erlass Nr. 53 des Plenums des Obersten Gerichts der Russischen Föderation „Über einige Fragen im Zusammenhang mit der Haftbarmachung von den Schuldner kontrollierenden Personen bei einer Insolvenz“ vom 21.12.2017

Fotoquelle: www.eunice.com.ua

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