Höhere Gewalt in arbeitsrechtlichen Beziehungen

Recht Russland

Olga Zhuravskaya, Anastasija Kondratenko, Rödl & Partner Russland

Unter höherer Gewalt versteht man unvorhersehbare Ereignisse, die vom Willen der Geschäftsparteien unabhängig sind und die Erbringung von vertraglichen Leistungen unmöglich machen. Laut Punkt 3 des Artikels 401 des russischen Zivilgesetzbuches haften Personen für die im Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeit versäumten oder nicht ordentlich erfüllten Verpflichtungen, es sei denn, sie können nachweisen, dass es aufgrund höherer Gewalt, in anderen Worten unabwendbarer außerordentlicher Umständen, nicht möglich war, ihren Verpflichtungen auf gebührende Weise nachzukommen.

Höhere Gewalt findet nicht nur in zivilrechtlichen Verhältnissen Anwendung. Auch in arbeitsrechtliche Beziehungen kann eine Force Majeure eingreifen, wenn zum Beispiel zwischen einer Naturkatastrophe und der Nichterfüllung oder einer nicht ordentlichen Erfüllung der Pflichten einer Arbeitsvertragspartei – sei es der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber – ein Kausalzusammenhang besteht.

Man kann die Konsequenzen höherer Gewalt für ein arbeitsrechtliches Verhältnis in drei Gruppen aufteilen:

  • höhere Gewalt ist einer der Umstände, die eine materielle Haftung des Arbeitgebers ausschließen (Artikel 239 des Arbeitsgesetzbuches Russlands, Punkt 5 des Beschlusses des Plenums des Obersten Gerichts Russlands Nr. 52 vom 16.11.2006);
  • für einen durch den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer nicht verschuldeten Arbeitsausfall erhält der Letztere eine Vergütung in der Höhe von mindestens zwei Dritteln des Tarifbetrags (Teil 2 des Artikels 157 des Arbeitsgesetzbuches Russlands);
  • ein außerordentlicher Umstand, der der Fortsetzung der arbeitsrechtlichen Beziehung im Wege steht, kann eine Auflösung des Arbeitsvertrags begründen, falls er durch die Behörden als außerordentlich eingestuft wurde (Punkt 7 des Teils 1 des Artikels 83 des Arbeitsgesetzbuches Russlands).

Die Analyse der Rechtsprechung legt folgende Schlussfolgerungen nahe.

Erstens wird materielle Haftung des Arbeitnehmers tatsächlich ausgeschlossen, wenn der Schaden infolge höherer Gewalt entstanden ist. So hatte das Unternehmen eines Arbeitgebers durch Strandung eines Schiffes einen direkten, tatsächlichen Schaden erlitten. Der Arbeitgeber war der Meinung, dass die Havarie durch den Arbeitnehmer verschuldet war. Das Richterkollegium für Zivilsachen hat indes befunden, dass der Schiffbruch durch höhere Gewalt verursacht wurde und dass der Arbeitnehmer sämtliche ihm zur Verfügung stehende Maßnahmen getroffen hat, um dem Unfall vorzubeugen. Ergo ist eine materielle Haftung des Arbeitnehmers unter diesen Umständen ausgeschlossen (Punkt 8 der Übersicht der Rechtsprechung in Sachen über materielle Haftung der Arbeitnehmer, bestätigt durch das Präsidium des Obersten Gerichts Russlands am 05.12.2018). Das Oberste Gericht hat eine identische Entscheidung in einer weiteren Sache getroffen. Wegen schlechten Wetters hatte ein Fahrer einer Spedition die Verkehrsregeln verletzt und war in einen Verkehrsunfall geraten. Dadurch wurde dem Fahrzeug eines Dritten Schaden zugefügt. Es hat nicht gelungen, vom Arbeitnehmer den vollen Schadensersatzbetrag beizutreiben, weil sein Verhalten nicht schuldhaft war (Entscheid des Obersten Gerichts Russlands vom 13.01.2020 in der Sache Nr. 78-KG19-54).

Zweitens stützen sich die Gerichte bei der Feststellung der materiellen Haftung des Arbeitgebers auf andere Grundsätze, unter anderem auf die Bestimmungen des Artikels 401 des russischen Zivilgesetzbuches. So wurde die Wirtschaftskrise nicht als höhere Gewalt akzeptiert, die es erlauben würde, den Arbeitnehmer nach Teil 2 des Artikels 157 des Arbeitsgesetzbuches zu vergüten, das heißt, in Höhe von mindestens zwei Dritteln des Tarifbetrages (Entscheid des Richterkollegiums für Zivilsachen des Gerichts für Gebiet Archangelsk vom 06.04.2009 in der Sache Nr. 33-1317/09).

Drittens prüfen die Gerichte durch außerordentliche Umstände herbeigeführte Arbeitsvertragskündigungen nach Punkt 7 des Teils 1 des Artikels 83 des Arbeitsgesetzbuches äußerst aufmerksam. Für solche Kündigungen ist eine offizielle Feststellung der höheren Gewalt seitens der staatlichen Behörden erforderlich. Die Corona-Infektion und die damit einhergehenden Restriktivmaßnahmen sind rechtlich gesehen keine höhere Gewalt für arbeitsrechtliche Beziehungen. Eine mit den eingeführten Einschränkungen verbundene Kündigung ist daher rechtswidrig (Punkt 6 des Anhangs zum Schreiben der Staatsarbeitsbehörde Rostrud Nr. 0147-03-5 vom 09.04.2020; Beschluss des Gerichts Widnowo im Gebiet Moskau vom 26.05.2020 in der Sache Nr. 2-3066/2020).
Die Arbeitgeber müssen somit bei der Gestaltung von arbeitsrechtlichen Beziehungen mit den Arbeitnehmern auch die Umstände höherer Gewalt mitberücksichtigen.

Fotoquelle: www.mostpp.ru

Zurück