Ausschluss eines Gesellschafters aus einer russischen OOO: Neue Position des Obersten Gerichts Russlands
von: Irina Ermakova, Rödl & Partner
In Joint Ventures ist es für die Gesellschafter nicht immer möglich, interne Konflikte und Streitigkeiten ganz zu vermeiden. Insbesondere kann dies angesichts des Übergangs auf die Telearbeit auftreten, in der oft dringend Angelegenheiten entstehen, für deren Lösung schnelle Handlungen und Entscheidungen der Gesellschafter wie zum Beispiel eine Gesellschafterversammlung oder die Abstimmung über wichtige Fragen erforderlich sind. Um die Rechte und Interessen von redlichen Gesellschaftern zu schützen, sind manchmal Ausnahmemaßnahmen nötig. Eine dieser Maßnahmen ist der Ausschluss eines Gesellschafters.
Übersicht der Rechtsprechung zu einzelnen Fragen der Anwendung der Rechtsvorschriften über Wirtschaftsgesellschaften (bestätigt durch das Präsidium des Obersten Gerichts der Russischen Föderation vom 25.12.2019, im Folgenden „Übersicht“)
In dieser Übersicht legte das Oberste Gericht drei neue und wichtige Schlussfolgerungen über die Möglichkeit des Ausschlusses eines Gesellschafters aus einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung dar, deren Kernideen wie folgt lauten:
- Gesellschafter, deren Anteil am Stammkapital mehr als 50 Prozent beträgt, können ohne Einschränkungen ausgeschlossen werden (Punkt 8 der Übersicht)
Diese These entspricht den geltenden Rechtsnormen. So können Gesellschafter laut Art. 67, Punkt 1, Abs. 4 des Zivilgesetzbuches der Russischen Föderation den Ausschluss eines anderen Gesellschafters vor Gericht beantragen, wenn dieser seine Pflichten verletzte und dies der Gesellschaft Schaden zufügte oder ihre Tätigkeit behinderte.
Artikel 10 des Gesetzes über Gesellschaften mit beschränkter Haftung sieht vor, dass die Forderung über den Ausschluss durch Gesellschafter vorgebracht werden kann, deren Gesamtanteil mindestens 10 Prozent des Stammkapitals ausmacht.
Vor der Veröffentlichung dieser Übersicht hatte eine Position des Obersten Arbitragegerichts der Russischen Föderation Vorrang, die besagte, dass ein Gesellschafter mit einem Anteil von mehr als 50 Prozent nur dann ausgeschlossen werden kann, wenn die Satzung den Gesellschaftern kein Recht auf freien Austritt aus der Gesellschaft gewährte[1]. Dies ging darauf zurück, dass der Ausschluss eines Mehrheitsgesellschafters für das Unternehmen ein Risiko der Tätigkeitsbeendigung darstellt. Bis vor kurzem richteten sich die Gerichte bei der Prüfung von relevanten Sachen nach diesen Erläuterungen des Obersten Arbitragegerichts und verwiesen darauf in den Begründungen ihrer Beschlüssen[2].
Die Schlussfolgerung über die Zulässigkeit des Ausschlusses eines Gesellschafters mit einer Beteiligung von mehr als 50 Prozent ohne jegliche Einschränkungen veranschaulichte das Oberste Gericht in seiner Übersicht anhand folgender Sache.
Sachverhalt
Ein Gesellschafter beantragte vor Gericht den Ausschluss von zwei anderen Gesellschaftern, deren Anteile insgesamt mehr als zwei Drittel des Stammkapitals betrugen. Einer von diesen auszuschließenden Gesellschaftern war Geschäftsführer der Gesellschaft.
Zur Begründung wies der Kläger darauf hin, dass die Gesellschafter unredliche Handlungen begangen und der Gesellschaft Schaden zugefügt hatten und zwar hatten sie Vermögen der Gesellschaft zu einem zu niedrigen Preis (um das Dreifache niedriger als der marktübliche) an ein anderes Unternehmen verkauft. Die Anteile der erwerbenden Gesellschaft gehörten den unredlichen Gesellschaftern.
Schlussfolgerungen der Gerichte
Das Gericht der ersten Instanz gab der Klage statt. Das Gericht der Berufungsinstanz hob den Beschluss des Gerichts der ersten Instanz auf. Als Begründung diente die Tatsache, dass die Satzung des Unternehmens den Gesellschaftern das Recht auf freien Austritt gewährte und dass die beklagten Gesellschafter gemeinsam mehr als 50 Prozent des Stammkapitals hielten.
Das Gericht der Kassationsinstanz hob den Beschluss des Gerichts der Berufungsinstanz auf und bestätigte den Beschluss des Gerichts der ersten Instanz. Begründet wurde dies damit, dass der Gesellschaft durch unredliche Handlungen der Gesellschafter Schaden zugeteilt wurde.
Außerdem wies das Gericht darauf hin, dass das Gesetz keine Einschränkungen für einen Ausschluss von Gesellschaftern mit einer Beteiligung von mehr als 50 Prozent enthält. Und letztlich legte der Kläger ausreichende Beweise dafür vor, dass die Tätigkeit der Gesellschaft nach der Auszahlung des tatsächlichen Anteilspreises an die auszuschließenden Gesellschafter nicht unmöglich wird.
- Unternehmensinterne Konflikte und gleiche Aufteilung der Anteile unter den Gesellschaftern verhindern den Ausschluss aus der Gesellschaft nicht (Punkt 7 der Übersicht).
Diese Stellungnahme des Obersten Gerichts ist auch grundsätzlich neu, weil früher in Beschlüssen über die Zurückweisung der Klage und bei Prüfung der Sachen im Rahmen der Revision von untergeordneten Instanzen darauf verwiesen wurde, dass der Ausschluss aus der Gesellschaft bei unternehmensinternen Konflikten und bei gleicher Aufteilung von Anteilen nur in Ausnahmefällen als Schutzmechanismus zur Geltung kommt[3]. Die Gerichte der untergeordneten Instanzen wendeten diese Herangehensweise ebenfalls an[4].
In der Übersicht illustrierte das Oberste Gericht diese Schlussfolgerung mit dem folgenden Beispiel:
Sachverhalt
Ein Gesellschafter forderte auf dem Gerichtsweg den Ausschluss eines anderen Gesellschafters aus der Gesellschaft. Letzterer reichte eine Gegenklage mit einer identischen Forderung ein. Beide Kläger verwiesen darauf, dass der andere Gesellschafter Handlungen vorgenommen habe, die die Tätigkeit der Gesellschaft behindern.
Schlussfolgerungen der Gerichte
Die Gerichte der ersten Instanz, der Berufungsinstanz und der Kassationsinstanz wiesen die erste sowie die Gegenklage ab und lehnten es ab, den Forderungen stattzugeben. Die Gerichte gingen davon aus, dass die Anteile beider Gesellschafter gleich waren und jeweils 50 Prozent betrugen. Außerdem stellten die Gerichte das Vorliegen eines gesellschaftsrechtlichen Konflikts zwischen den Gesellschaftern fest. In dieser Lage war nach Auffassung der Gerichte die Anwendung des Instruments des Ausschlusses eines Gesellschafters nicht möglich.
Das Oberste Gericht verwies die Sache zur Neuverhandlung zurück. Dieser Beschluss wurde damit begründet, dass die Gerichte die Umstände des Verstoßes der Gesellschafter gegen ihre Verpflichtungen, wodurch die Tätigkeit der Gesellschaft erschwert wurde und worauf in beiden Klagen Bezug genommen wurde, nicht berücksichtigt und gewürdigt hatten. Gleichzeitig erklärte das Oberste Gericht die Schlussfolgerungen der untergeordneten Gerichte, wonach der Ausschluss von Gesellschafter bei Vorliegen eines gesellschaftsrechtlichen Konflikts und bei gleich großen Anteilen am Stammkapital unmöglich sei, für falsch.
Insbesondere verwies das Oberste Gericht darauf, dass das Vorliegen eines gesellschaftsrechtlichen Konflikts jeder Streitigkeit dieser Kategorie zu eigen sei, da sich die Streitparteien gerade zur Lösung dieses Konflikts den Gerichtsweg beschreiten. Daher ist die Weigerung der Gerichte, diese Streitigkeit zu verhandeln, da es sich um eine gesellschaftsrechtliche Streitigkeit handele, unzulässig.
Das Oberste Gericht verwies darauf, dass eine gleiche Aufteilung der Anteile zwischen den Parteien einer gesellschaftsrechtlichen Streitigkeit keine Grundlage dafür ist, Klagen auf Ausschluss eines Gesellschafters abzuweisen.
- Die Verursachung von wesentlichem Schaden für die Gesellschaft ist eine ausreichende Grundlage für den Ausschluss eines der Gesellschafter, unabhängig davon, ob es möglich ist, den begangenen Verstoß auf andere Weise zu beseitigen (Punkt 9 der Übersicht)
Diese Schlussfolgerung illustrierte das Oberste Gericht mit dem folgenden Beispiel:
Sachverhalt
Ein Gesellschafter wandte sich mit der Forderung an das Gericht, einen anderen Gesellschafter, der auch als Direktor der betreffenden Gesellschaft tätig war, aus der Gesellschaft auszuschließen. Die Forderungen waren dadurch begründet, dass der Beklagte der Gesellschaft erheblichen Schaden zugefügt hatte, indem er ein der Gesellschaft gehörendes Gebäude zu einem zu niedrigen Preis verkauft hatte (weniger als ein Viertel des Marktwertes).
Schlussfolgerungen der Gerichte
Das Gericht der ersten Instanz verweigerte die Befriedigung der Klageforderungen. Begründet wurde dies damit, dass der Ausschluss eines Gesellschafters eine äußerste Maßnahme sei, die nur dann anzuwenden sei, wenn die Anwendung anderer Maßnahmen unmöglich ist. Insbesondere äußerte das Gericht die Meinung, dass der Kläger das Rechtsgeschäft anfechten und vom Schuldigen den Schaden beitreiben könnte.
Das Gericht der Berufungsinstanz hob den Beschluss des erstinstanzlichen Gerichts auf und gab den Forderungen des Klägers statt. In der Begründung verwies das Berufungsgericht darauf, dass die Tatsache der Zufügung von erheblichem Schaden durch den Gesellschafter bewiesen sei. In einem solchen Fall kann ein Gesellschafter aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, unabhängig davon, ob es möglich ist, die Folgen des Rechtsverstoßes anderweitig zu beseitigen, ohne ihm sein Beteiligungsrecht an der Gesellschaft zu entziehen.
Schlussfolgerungen.
Die neuen Schlussfolgerungen des Obersten Gerichts gestatten also die Annahme, dass der Ausschluss eines Gesellschafters nicht länger eine Ausnahmemaßnahme ist, die nur unter bestimmten und äußerst eingeschränkten Bedingungen möglich ist. Es ist im Gegenteil eine Tendenz zu beobachten, dass der Ausschluss eines Gesellschafters ein effektives Instrument zur Wiederherstellung verletzter Rechte und Interessen der anderen Gesellschafter sowie der Gesellschaft selbst ist.
Dies betrifft auch Fälle, in denen der Anteil eines Gesellschafters über 50 Prozent beträgt, in denen ein gesellschaftsrechtlicher Konflikt vorliegt, in denen die Gesellschafter über gleich große Anteile verfügen, oder in denen die Folgen eines begangenen Rechtsverstoßes durch andere Maßnahmen beseitigt werden könnten (zum Beispiel durch Anfechtung des betreffenden Rechtsgeschäfts).
Diese Erläuterungen des Obersten Gerichts werden von den Gerichten bei der Urteilsfindung in Fällen der Befriedigung von Klagen dieser Kategorie bereits berücksichtigt[5].
Unsere Empfehlungen
Zur Vermeidung negativer Folgen ist es zu empfehlen, die Gesellschafter über die neuen Erläuterungen des Obersten Gerichts in Bezug auf den Ausschluss von Gesellschaftern zu benachrichtigen und auch über die Handlungen zu informieren, für die ein Ausschluss aus der Gesellschaft erfolgen kann. Diese Handlungen können in zwei Gruppen aufgeteilt werden:
Die erste Gruppe von Handlungen besteht in der Zufügung von wesentlichen Verlusten (Schäden) für die Gesellschaft. Beispiele hierfür sind:
- Abschluss von Rechtsgeschäften zur Veräußerung von Vermögen zu wissentlich zu niedrigen Preisen, wenn der Gesellschafter gleichzeitig Direktor der Gesellschaft ist (Punkt 8.9 der Übersicht);
- Systematisches Abstimmen gegen einen für die Gesellschaft wichtigen Beschluss (Punkt 5 des aufgeführten Informationsschreibens des Präsidiums des Obersten Gerichts);
- Wirtschaftlich unbegründete Entlassung aller Mitarbeiter (Punkt 35 des Erlasses Nr. 25 des Plenums des Obersten Gerichts der Russischen Föderation vom 23. Juni 2015)[6];
- Ausübung von konkurrierender Tätigkeit (Punkt 35 des genannten Erlasses des Plenums des Obersten Gerichts der Russischen Föderation, zum Beispiel Organisation einer konkurrierenden Organisation durch einen Gesellschafter der Gesellschaft, der gleichzeitig deren Geschäftsführer ist, unter derselben Adresse, wobei der Gesellschafter und Geschäftsführer der neuen, konkurrierenden Gesellschaft der Sohn des Gesellschafters war[7]).
Die zweite Gruppe von Handlungen, für die ein Ausschluss aus der Gesellschaft möglich ist, setzt einen groben Verstoß gegen die Gesellschafterpflichten voraus, was die Gesellschaftstätigkeit erheblich erschwert. Beispiele hierfür sind:
- Systematisches Vermeiden der Teilnahme an Gesellschafterversammlungen (Punkt 6 des Informationsschreibens des Präsidiums des Obersten Gerichts);
- Mehrfache Anrufung von Gerichten oder staatlichen Behörden mit Beschwerden und Klagen in Bezug auf die Gesellschaft (Punkt 9 des Informationsschreibens des Präsidiums des Obersten Gerichts).
[1] Punkt 11 des Informationsschreibens des Präsidiums des Obersten Arbitragegerichts der Russischen Föderation Nr. 151 „Übersicht der Praxis der Verhandlung von Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Ausschluss eines Gesellschafters aus einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung durch die Arbitragegerichte“ vom 24. Mai 2012. Das Oberste Arbitragegericht wurde aufgelöst, seine Funktionen nimmt eines der Kollegien des Obersten Gerichts der Russischen Föderation.
[2] Siehe z.B. Erlass Nr. 09AP-19500/2019 des Neunten Arbitrageberufungsgerichts vom 23.5.2019 zur Sache Nr. A40-20841/19.
[3] Entscheid des Obersten Gerichts der Russischen Föderation Nr. 306-ES19-17765 vom 9.10.2019 in der Sache Nr. A55-19918/2018; Entscheid des Gerichtskollegiums für Wirtschaftsstreitigkeiten des Obersten Gerichts der Russischen Föderation vom 8.10.2014 in der Sache Nr. 306-ES14-14, A-06-2044/2013.
[4] Erlass des Arbitragegerichts des Wolgabezirks Nr. F06-47699/2019 vom 21.6.2019 in der Sache Nr. A55-19918/2018.
[5] Erlass Nr. F05-13628/2019 des Arbitragegerichts des Bezirks Moskau vom 11.3.2020 zur Sache Nr. А40-267724/2018, Erlass Nr. F05-24791/2019 des Arbitragegerichts des Bezirks Moskau vom 4.2.2020 zur Sache Nr. А40-317588/2018, Erlass des Arbitragegerichts des Westsibirischen Bezirks vom 26.2.2020 zur Sache Nr. A03-22343/2017.
[6] Erlass Nr. 25 des Plenums des Obersten Gerichts der Russischen Föderation „Über die Anwendung einiger Bestimmungen von Abschnitt I, Teil 1 Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation“ vom 23. Juni 2015.
[7] Erlass des Arbitragegerichts des Wolgabezirks Nr. F06-21357/2017 vom 30. Juni 2017 in der Sache Nr. A65-18288/2016.
Fotoquelle: www.m24.ru