Reform des Marktes für juristische Dienstleistungen in Russland

Recht Russland

Gemäß einer Studie des russischen Instituts für Probleme der Rechtsanwendung hat sich der Umfang des Marktes für juristische Dienstleistungen in Russland in den letzten 10 Jahren fast verdoppelt (von 114 Mrd. RUB im Jahr 2003 bis zu 222 Mrd. RUB im Jahr 2015). Im Jahr 2000 hatten die russischen Gerichte in 4,8 Mio. Zivilverfahren zu entscheiden. 1,6 Mio. Menschen wurden in Ordnungswidrigkeitsverfahren zur Verantwortung gezogen. Im Jahr 2008 sind diese Zahlen auf 10,6 Mio. Zivilverfahren bzw. 5,5 Mio. Menschen sowie im Jahr 2016 auf 16 Mio. Zivilverfahren und 6 Mio. Menschen gestiegen. Also, innerhalb der letzten 15 Jahre hat sich die Zahl der Zivilverfahren in Russland verdreifacht. Jedes Jahr stellen die russischen Universitäten etwa 150.000 Diplome mit der Qualifikation „Jurist“ aus.

Nach Angaben der föderalen Rechtsanwaltskammer gab es 2016 in Russland 72.000 Rechtsanwälte. Die Zahl der praktizierenden Juristen ohne Anwaltsstatus ist unbekannt. Nach Einschätzung variiert sie sich zwischen 100.000 und 1 Mio. 2016 waren in Russland 47.000 kommerzielle Organisationen, 27.500 individuelle Unternehmer und 1.800 nichtkommerzielle Organisationen registriert, die juristische Dienstleistungen anbieten. Über 97 % der kommerziellen Organisationen sind in Form der Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Über die Hälfte sind in den letzten 5 Jahren registriert worden.

Die Zahlen besagen, dass die heutige Anwaltschaft nicht dem Markt gerecht und für Juristen nicht attraktiv ist. Juristen, die sich nicht auf Strafrecht spezialisieren (der Anwaltszwang besteht nur im Strafgerichtsverfahren), wollen keinen Anwaltsstatus erhalten. Sie sehen kaum Vorteile der Anwaltschaft. So z.B. dürfen Anwälte nicht die vereinfachte Besteuerung auswählen, Mandanten dürfen Verträge nur direkt mit Anwälten (nicht mit der Anwaltsvereinigung) schließen, Anwaltsvereinigungen sehen keine Hierarchie und System der Partnerschaft vor. Andererseits unterliegt die Tätigkeit praktizierender Juristen kaum der Regulierung und Kontrolle wie in der Anwaltschaft. Sie müssen keine Disziplinarverfahren, Zulassungsentzug usw. befürchten, was negative Auswirkung auf die Qualität juristischer Dienstleistungen hat.

In diesem Zusammenhang werden unter russischen Juristen seit Jahren Diskussionen über die Notwendigkeit der Reformierung des Marktes geführt. Wichtige Aspekte der Diskussionen sind die Einführung des Anwaltszwangs vor Gerichten, die Standardisierung der Qualität juristischer Dienstleistungen, die Verbesserung der internen Kontrolle über die Tätigkeit von Juristen usw. Im Herbst 2017 wurden zwei Reformvorschläge ausgearbeitet. Am 25.10.2017 hat das russische Justizministerium auf seiner Website den neuen Entwurf des „Konzepts der Regulierung des Marktes für professionelle juristische Hilfe“ (nachfolgend: Konzeptentwurf) veröffentlicht. Außerdem hat im Herbst 2017 die Assoziation der Juristen Russlands diesbezüglich den eigenen Gesetzesentwurf ausgearbeitet und in die Staatsduma gebracht.

Der Gesetzentwurf sieht eine mildere Reform vor, vor allem die Einführung der Anforderung an alle Prozessvertreter, eine juristische Hochschulausbildung zu besitzen. Zurzeit gilt die Qualifikationsanforderung nur für Vertreter im Straf- und Ordnungswidrigkeitsgerichtsverfahren. Als Vertreter im Zivil- bzw. Arbitragegerichtsverfahren kann jedermann auftreten.

Nach Einschätzung von Spezialisten würde der Ausbildungszwang jedoch nicht zur Erhöhung der Qualität juristischer Dienstleistungen führen, zumindest nicht ohne grundlegende Reform des Bildungssystems. Der Zustand der juristischen Ausbildung in Russland würde die bedeutendste Rolle für Erfolg der durch die Juristenassoziation vorgeschlagenen Reform spielen, denn in diesem Fall sollten Universitäten faktisch die Kontrolle über den Zugang zum juristischen Beruf übernehmen. In Russland ist es jedoch im Vergleich zu Deutschland nicht so schwer, eine juristische Ausbildung zu absolvieren. Das ausgestellte Diplom sagt also wenig über die Qualität seines Besitzers. Die juristische Ausbildung hat in Russland einen Massencharakter. Jährlich absolvieren ca. 150.000 Studierende erfolgreich das Jura-Studium. Juristische Diplome kann fast jede zweite Universität (Hochschule) Russlands ausstellen, wobei fast 60 % davon nicht juristisch fachorientiert sind und 72 % der Studierenden Jura lediglich im Fernunterricht studieren. Bei dieser Lage würden Universitäten kaum imstande sein, die Kontrolle über den Zugang zum juristischen Beruf effektiv zu gewährleisten. Zunächst sollen das Prestige der juristischen Ausbildung erhöht, die Anforderungen an die Zulassung zum Studium verschärft und die Zahl der Plätze im Fernstudium reduziert werden.

Der Konzeptentwurf des Justizministeriums schlägt eine radikale Reform vor, die die Struktur des juristischen Berufs ändern soll. Es handelt sich bereits um den zweiten, überarbeiteten Entwurf, der die scharfe Kritik an dem ersten aus dem Jahr 2015 berücksichtigt haben soll. Der neue Konzeptentwurf sieht die Einführung des Anwaltsmonopols auf entgeltliche juristische Dienstleistungen ab dem 1.1.2023 vor. Die Reform soll auf drei Etappen aufgeteilt werden. Zum ersten sollen 2018 gesetzliche Normen geändert werden, um die Attraktivität des Anwaltsberufs für Juristen zu erhöhen. Die Anwaltstätigkeit soll in Form kommerzieller Kapitalgesellschaften erlaubt werden (die passendste Form wäre die Rechtsanwaltsgesellschaft mbH). Die vereinfachte Besteuerungsprozedere soll für Juristen weiterhin gelten. Rechtsanwälte sollen auch als Arbeitnehmer eingestellt werden dürfen. Dienstleistungsverträge sollen nicht nur mit Rechtsanwälten persönlich möglich sein, sondern auch mit Anwaltssozietäten und –gesellschaften. Es soll auch der Titel Fachanwalt eingefügt werden, der durch die Rechtsanwaltskammer Anwälten verliehen wird, die in einem bestimmten Rechtsgebiet über besondere Kenntnisse und Erfahrungen verfügen. Zum zweiten soll 2019 ein vorläufiges vereinfachtes Übergangsverfahren in die Rechtsanwaltschaft für praktizierende Juristen ausgearbeitet werden. Und zum dritten soll ab 2020 die Aufnahme der praktizierenden Juristen in die Rechtsanwaltschaft nach diesem Verfahren anfangen. Während der dritten Etappe ist der Monitoring der vorgenommenen Reform zum Zwecke der Bewertung deren Effektivität vorgesehen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse dieser Bewertung soll endgültig über die Einführung des Anwaltsmonopols bzgl. der juristischen Dienstleistungen und Vertretung vor Gericht ab dem 1.1.2023 entschieden werden.

Die Umsetzung der Reform des Justizministeriums soll die Möglichkeiten von Anwälten und praktizierenden Juristen ohne Anwaltsstatus ausgleichen, was die positiven Anreize für den freiwilligen Beitritt in die Anwaltschaft schaffen soll. Anwälte erhalten wirtschaftlich effektivere Formen der Tätigkeit und praktizierende Juristen erhalten Vorteile des Anwaltsberufs – Anwaltsanfrage und –geheimnis.

Nach Einschätzung von Experten könnte die vom Justizministerium vorgeschlagene Reform einen positiven Effekt für den Markt juristischer Dienstleistungen haben. Der Erfolg werde jedoch davon abhängen, ob die Institute der Disziplinarverantwortung innerhalb der neuen Anwaltschaft gut funktionieren werden.

 

Moisseeva E., Skugarevskij D., „Markt juristischer Dienstleistungen in Russland: Was sagt die Statistik“ (russ.), St. Petersburg, 2016, http://enforce.spb.ru/images/lawfirms_report_e_version.pdf (zuletzt abgerufen am 24.12.2017))

Entwurf des Konzepts der Regulierung des Marktes für professionelle juristische Hilfe (russ.): http://minjust.ru/ru/deyatelnost-v-sfere-advokatury/proekt-koncepcii-regulirovaniya-rynka-professionalnoy-yuridicheskoy

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