Recht auf Offline: Umsetzung in Russland und im Ausland

Recht Russland

Anastasia Kondratenko, Rödl & Partner Russland

Der Wechsel in die Telearbeit und die ständige digitale Kommunikation mit dem Arbeitgeber führen allmählich (in einigen Fällen sogar relativ schnell) zu einer unbezahlten Verlängerung des Arbeitstages sowie einer Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben und haben Burnout und Stress zur Folge. Die Telearbeiter sehen sich mit der Erwartung konfrontiert, immer online und zu jeder Tageszeit telefonisch oder per E-Mail erreichbar zu sein. Die Internationale Arbeitsorganisation hat dabei schon 2016 klargestellt, dass Stress am Arbeitsplatz ein fundamentales Risiko für die Gesundheit darstellt.

Um den Druck auf die Arbeitnehmer zu reduzieren und flexible Arbeitsweisen von negativen Auswirkungen zu befreien, wird jetzt immer häufiger die Idee diskutiert, dass das Recht auf Offline oder das Recht auf Abschalten gesetzlich verankert werden muss.
Im Entwurf der EU-Richtlinie wird das Recht auf Abschalten als Recht der Arbeitnehmer definiert, außerhalb ihrer Arbeitszeiten an keiner digitalen Arbeitstätigkeit oder -kommunikation (am Telefon, am Computer oder per E-Mail) teilnehmen zu müssen. Arbeitgeber dürfen dabei Arbeitnehmer, die von diesem Recht Gebrauch nehmen, weder diskriminieren noch kündigen noch andere Maßnahmen treffen, die für diese Mitarbeiter abträglich sind.

Das Recht auf Abschalten ist erstmals in Frankreich im Jahr 2012 entstanden, im Jahr 2016 wurde es gesetzlich verankert. Laut französischem Arbeitsrecht müssen die Arbeitgeber, bei denen mindestens 50 Arbeitnehmer eingestellt sind, die Regeln für die Interaktion mit den Mitarbeitern nach Feierabend ausarbeiten. Das Recht auf Abschalten wurde auch in Belgien, Italien und Spanien zum Gesetz.
Im deutschen Recht dagegen wird das Recht auf Abschalten nicht unmittelbar geregelt. Der § 5 des Arbeitszeitgesetzes räumt dafür jedem Mitarbeiter elf ununterbrochene Stunden Ruhezeit ein, nachdem der Arbeitstag zu Ende gegangen ist. Die Unterbrechungen werden in diesem Fall sehr ernstgenommen. Falls der Arbeitnehmer in dieser Zeit beruflich involviert wurde, muss er wieder für mindestens elf Stunden ohne Unterbrechungen von der Arbeit freigestellt werden. Außerdem sind die Arbeitnehmer laut dem deutschen Arbeitsrecht nicht verpflichtet, für ihre Arbeitgeber rund um die Uhr erreichbar zu sein. Die Arbeitnehmer müssen berufliche Anrufe und E-Mails nur während ihrer vertraglichen Arbeitszeiten beantworten.

In Russland hat sich indes die Herangehensweise etabliert, dass das Recht auf Offline im Gesetz nicht namentlich erwähnt werden muss, weil die Bestimmungen zur maximal möglichen Dauer des Arbeitstages und zur Dauer der arbeitsfreien Zeiten auch ein Recht auf Abschalten voraussetzen. Es ist verboten, vom Arbeitnehmer die Erbringung von Arbeitsleistungen außerhalb seines Arbeitstages zu verlangen (Artikel 106 des Arbeitsgesetzbuches der Russischen Föderation). Im Unterschied zum deutschen Recht setzt das russische Arbeitsrecht die minimale Ruhedauer nur für eine Arbeitnehmerkategorie bei elf Stunden an, nämlich für Berufskraftfahrer.

Falls eine entsprechende schriftliche Zustimmung des Arbeitnehmers vorliegt, kann der Arbeitgeber bei Bedarf dem Arbeitnehmer Arbeitsaufträge auch außerhalb seiner Arbeitszeiten erteilen. In diesem Fall wird die Arbeit gemäß den geltenden Überstundenregelungen vergütet. Das russische Arbeitsrecht schränkt die Überstundenarbeit sowohl in Hinsicht auf den Mitarbeiterkreis als auch auf die Überstundendauer ein. Schwangere Frauen, Mitarbeiter unter 18 Jahren und einige andere Arbeitnehmer dürfen zum Beispiel keine Überstunden machen. Überstunden können an zwei aufeinander folgenden Tagen maximal vier Stunden und jährlich maximal 120 Stunden geleistet werden.

Die Interaktion des Telearbeiters mit seinem Arbeitgeber wird auf jeden Fall der Arbeitsdauer zugerechnet (Artikel 312.4 Teil 6 des Arbeitsgesetzbuches der Russischen Föderation).
In der Praxis hängt das Recht auf Offline von einer Anzahl von Faktoren ab – von technischer Ausstattung, der Art der Arbeitsleistungen, der Position, der Arbeitsintensität, der Unternehmenskultur, davon, ob der Arbeitnehmer in mehreren Zeitzonen arbeiten muss usw.
Mittlerweile garantieren einige Großunternehmen ihren Mitarbeitern schon jetzt die Einhaltung dieses Rechts. Bei Volkswagen müssen beispielsweise die Arbeitsserver der Mitarbeiter außerhalb der Arbeitszeiten ausgeschaltet werden. Es wäre wahrscheinlich auch akzeptabel, zur Absicherung des Rechts auf Offline eingehende Nachrichten zu blockieren oder beim Nachrichteneingang darauf hinzuweisen, dass der Empfänger diese außerhalb der Arbeitszeiten nicht beantworten muss.
Das Recht auf Abschalten kann nicht nur durch strenge Maßnahmen, sondern auch durch weiche Methoden geschützt werden, die auch langfristig wirksam bleiben werden. Das Unternehmen sollte die Unternehmenskultur fördern, in der der Work-Life-Balance eine zentrale Bedeutung zukommt. Außerdem sollte man danach streben, in den Regelzeiten für Arbeitsinteraktionen und die Erbringung von Arbeitsleistungen (z. B. zwischen 9 und 18 Uhr oder zwischen 10 und 19 Uhr mit einer Stunde für Erholung und Mittagessen, die keine Arbeitsstunde ist) die Arbeit effizient zu gestalten. Um diese Ziele zu erreichen, wird empfohlen, Schulungen zum Zeitmanagement zu organisieren, die Arbeitszeiten korrekt zu erfassen und auf die Arbeitsbelastung der Arbeitnehmer zu achten.
Aus unserer Sicht muss das Recht auf Offline allen Mitarbeitern gewährt werden und nicht nur denjenigen, die im Homeoffice arbeiten. Dieses Recht nimmt eine besondere Stelle im System der Arbeiterrechte ein: Es befindet sich direkt an der Schnittstelle zwischen dem Recht auf faire Arbeitsbedingungen und dem Recht auf Gesundheit und Arbeitssicherheit.
Die Handhabung der Überstunden unterscheidet sich in der russischen und der ausländischen Rechtspraxis. In Russland wird vor allem Entschädigung für die geleistete Arbeit angestrebt. In den europäischen Staaten war diese Herangehensweise in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts üblich. Jetzt stehen die Vorbeugung und Vermeidung von Gesundheitsrisiken sowie die Arbeitssicherheit und die Eingrenzung der Arbeitszeiten im Fokus. Wir glauben, dies ist eine sowohl vernünftige als auch faire Schwerpunktänderung. In diesem Kontext müsste man immer berücksichtigen, dass die Entspannung eine gleichermaßen wichtige Phase des Arbeitsprozesses ist. Ein emotional ausgelaugter Arbeitnehmer wird die gesetzten Arbeitsaufgaben schlechter erledigen, seine Effizienz und Produktivität werden sinken und das Risiko von physischen Erkrankungen steigen.

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